Ein Beitrag über Recherchewege, Zufälle und Austausch mit Nachfahren von NS-Verfolgten
„Ping“ – eine neue E-Mail im Postfach liefert den Startschuss. Es ist digitale Post des Argentiniers Javier Mansbach, der sich auf eine intensive Spurensuche begeben hat. Seine Vorfahren stammten aus Duisburg und er möchte mehr über das Leben seiner Urgroßmutter herausfinden. Der junge Künstler forscht zu Frieda Weiner, geb. Philipps, die 1939 – nach dem grausamen Novemberpogrom – mit ihrer Familie Deutschland verließ und nach Bolivien auswanderte. 1944 starb ihr Mann, Friedrich Weiner, woraufhin es Frieda und ihre erwachsenen Kinder 1946 nach Argentinien verschlug. Dort lebte bereits ein anderer Teil der Familie Philipps. Jahrzehnte später kommt Javier als ihr Nachfahre in Argentinien zur Welt. In seinem Kunstprojekt CARNE will er sich der eigenen Familiengeschichte nähern.
Aber nochmal zurück zum „Ping“.
Nach dem Eingang einer Anfrage von Nachfahren verfolgter Duisburgerinnen und Duisburger beginnt eine kleinteilige „Detektivarbeit“. Das Team des Zentrums für Erinnerungskultur (ZfE) versucht dabei möglichst viele Fragen im Vorfeld durch die Angehörigen zu klären, um anschließend eine intensive Recherche durchzuführen. Einige Nachfahren können auf Fotos, Dokumente, Briefe oder Interviews zurückgreifen, andere haben lediglich mündliche Überlieferungen von Flucht- und Lebensgeschichten, die über Jahrzehnte innerhalb der Familie kursierten. „Jeder Bruchstein an Information kann dabei hilfreich sein, offene Fragen zur Biografie einer Person zu klären und detailliert in den Archiven und Akten zu recherchieren“, betont Robin Richterich, Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Erinnerungskultur.
Die Beantwortung von Anfragen zur NS-Vergangenheit in Duisburg gehört zum Alltagsgeschäft des ZfE. Das können Fragen aus der Bürgerschaft sein, Bürger*innen, die z.B. ein Gerücht über die NS-Vergangenheit ihres Stadtteils oder über bestimmte Personen und Ereignisse gehört haben. Andere finden in Familiennachlässen NS-bezogene Objekte und haben Fragen dazu oder wollen NS-Devotionalien loswerden, ohne einen dubiosen Markt zu bedienen.
Neben dem spannenden Austausch mit Nachfahren von Überlebenden erhält das Team des Zentrums auch spannende Einblicke in private Familienarchive, in Briefe, Fotos und Dokumente, die für die Erforschung der Stadtgeschichte, insbesondere der Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus, von besonderer Bedeutung sind. Diese persönlichen Nachlässe von konkreten Menschen, deren Geschichte nun besser erzählt werden kann, ermöglichen die empathische und besser greifbare Vermittlung der Duisburger Stadtgeschichte.
Anfragen von Nachfahren von Holocaust-Überlebenden oder Nachfahren von Ermordeten Duisburger Jüdinnen und Juden sind nicht selten, sondern nehmen sogar zu. Das Interesse an der Familiengeschichte und damit zugleich nach der eigenen Identität lässt sich verstärkt in der Enkelgeneration finden und begegnet uns immer wieder, zuletzt bei den Nachfahren der Familie Meisels aus Hamborn (wir berichten auf dem Blog). Am Beispiel der „Anfrage Mansbach“ wird im Folgenden der übliche Rechercheweg dargelegt, den das Team des ZfE bei jeder Nachforschung geht.
Der Rechercheweg
Bei Anfragen zu jüdischen NS-Verfolgten gilt der erste Blick den beiden Bänden der „Duisburger Forschungen. Schriftenreihe für Geschichte und Heimatkunde Duisburgs“, die Günter von Roden in Zusammenarbeit mit Rita Vogedes zur Geschichte der Duisburger Juden (Bd. 34, Teil 1 und 2 https://www.mercator-gesellschaft.de/publikationen-2/) 1986 veröffentlichte. Hier finden sich alle, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bekannten, Informationen zu Duisburger Jüdinnen und Juden.
Mithilfe dieser Basisinformationen können weitere Recherchen im Stadtarchiv Duisburg durchgeführt werden. So lassen sich mit einem Blick in die Gewerbekartei Schlüsse zur Struktur des Familienunternehmens ziehen: Am Beispiel der Familie Philipps wird deutlich, dass es sich um ein weit verzweigtes und erfolgreiches Metzgereiunternehmen handelt. Oskar Philipps, der Ur-Ur-Großvater von Javier Mansbach, kaufte im Jahre 1900 ein neu errichtetes Haus in der Steinschen Gasse 30. Das Gebäude, deren Pläne, Bauzeichnungen und Genehmigungsunterlagen alle im Hausaktenarchiv zu finden waren, bot genügend Platz für Verkaufs- und Wohnräume. Spezialisiert auf Pferdefleisch, wie beispielsweise eine Werbeanzeige von 1910 im Generalanzeiger belegt, beantragte Oskar Philipps im Jahre 1927 den Einbau eines größeren Schaufensters sowie die Anbringung des Firmennamens in goldenen Buchstaben.
Als älteste von vier Kindern wurde Frieda („Elfriede“) am 17. Februar 1898 in Duisburg geboren. Bis 1903 bekamen Oskar und seine Frau Emma drei weitere Kinder: Elli, Grete und Walter. Alle wuchsen über dem Ladenlokal in der Steinschen Gasse 30 auf. Frieda besuchte das Lyzeum in Duisburg, um anschließend in Alzey (Pfalz) eine Schule zu besuchen. In „Geschichte der Duisburger Juden“ ist von einem Dr. Lewit die Rede, der die Schule leitete. Nach einer Anfrage im städtischen Archiv und Museum im pfälzischen Alzey und dem Kontakt zur örtlichen Arbeitsgruppe Juden im Alzeyer Land des Altertumsvereins Alzey und Umgebung e.V. wird klar, dass es sich bei Dr. Julius Lewit um den örtlichen Rabbiner handelte. Die Kolleg*innen in Alzey wissen allerdings nichts von einer Schule, einem Internat oder Religionsunterricht. Die einzige Verbindung, die ihnen einfällt, ist die Nähschule einer jüdischen Alzeyerin namens Sophie Ella Weiner (geboren: 1889 in Alzey, umgekommen, ermordet: 1943 im KZ Theresienstadt). Ob dies tatsächlich die Schule war, die Frieda Philipps besuchte, lässt sich nicht mehr überprüfen. Dass Frieda und Sophie sich allerdings kannten liegt nahe: denn Frieda heiratete 1922 Sophies älteren Bruder Friedrich Wilhelm Weiner und bekam am 23. August 1923 ihr erstes gemeinsames Kind namens Helmut. Am 29. August 1925 folgte Tochter Ilse. Die Familie lebte bis 1930 in Alzey und zog dann in Friedas Heimatstadt Duisburg.
Dort hatte ihr jüngerer Bruder Walter die familieneigene Metzgerei übernommen. Frieda und ihr Mann Friedrich stiegen ebenfalls ins Geschäft ein. Als Mitglied im Synagogenchor war Frieda ein aktiver Teil der jüdischen Gemeinde. Die Gewerbekartei des Stadtarchivs belegt, dass das Ehepaar die Filiale in der Beekstraße 65 führte. Beliefert wurde das Geschäft täglich mit Fleisch- und Wurstwaren von der Hauptstelle in der Steinschen Gasse 30. Das berichtet der nicht-jüdische Angestellte der Familie, Fritz Stollen, bei einer Befragung zum Wiedergutmachungsantrag von Frieda Weiner.
Fritz Stollen betont, dass die Anfeindungen gegen das jüdische Unternehmen und die Familie Philipps 1934 stark zunahmen. Wie viele andere jüdische Geschäfte, wurde auch die Metzgerei Philipps unter Wert „arisiert“ und am 31. Juli 1935 an Hans Kramer verkauft.
Walter Philipps, der das Geschäft geleitet hatte, verließ Deutschland und wanderte mit seiner Familie nach Argentinien aus. Währenddessen blieben seine Schwester Frieda und ihr Mann Friedrich Weiner mit den Kindern in Duisburg. Als angestellter Metzger fand Friedrich in einem Hamborner Betrieb neue Arbeit.
Die Zusammenarbeit mit Nachfahren von den NS-Verfolgten ist keine Einbahnstraße, das heißt, wir stellen nicht nur Informationen, Digitalisate zur Verfügung oder umgekehrt: Wir erfahren von den Nachfahren nicht nur ergänzende Information über die Familie, oftmals erhalten wir berührende Ego-Dokumente, wie Briefe und Fotos. Das Besondere an dem Kontakt und der Zusammenarbeit mit Nachfahren ist, dass erst im Austausch widersprüchliche Darstellungen in den Akten oder im familieneigenen Gedächtnis durch die Zusammenführung unterschiedlicher Quellen aus staatlicher und privater Provenienz Antworten auf offene Fragen gegeben werden können oder neue Fragen entstehen, die es zu beantworten gilt.
Akten belegen: Vielfältige Beziehungen zwischen der jüdischen Minderheit und der Mehrheitsgesellschaft
In der Retroperspektive erscheint die jüdische Minderheit im deutschen Reich – vor dem Hintergrund des Holocausts – oftmals als homogene und auch anonyme Masse. Der Blick auf sie ist obendrein in der Regel opferzentriert. Über Widerstand, widerständiges Verhalten oder Selbstbehauptung und Selbstbehauptungsstrategien ist nur selten etwas zu lesen. Die jüdische Minderheit war aber weder homogen, noch lebten sie vom Rest der Gesellschaft abgeschottet in der Anonymität; das Gegenteil war der Fall. Im Alltag gab es vielfältige Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden; sei es auf privater, beruflicher und geschäftlicher Ebene. Diese diversen Beziehungen mussten erst von den Nationalsozialisten unterbrochen und dann zerstört werden.
In den sog. Wiedergutmachungsakten können wir z.B. feststellen, dass von jüdischen Inhabern geführten Betriebe, wie Metzgereien oder Haushaltswarenläden, auch nicht-jüdische Angestellte und Auszubildende beschäftigten, die in der Nachkriegszeit in Entschädigungsverfahren als Zeugen auftraten und, wie im Falle der Familie Weiners/Phillips, die Auswirkung des NS-Boykotts/Verfolgungsmaßnahmen bezeugen konnten.
Viele Quellen, viele Antworten
Bei manchen Recherchen verlieren sich die Spuren oder es lassen sich keine weiteren Quellen auftun, bei anderen erweisen sich Annahmen über mögliche Zusammenhänge als falsch. Im vorliegen Fall ist es jedoch anders gelagert: Es tauchten widersprüchliche Informationen auf. Von einer Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe „Juden im Alzeyer-Land“ erhielten wir die Informationen, dass Friedas Tochter, Ilse Berta Weiner vermeintlich im Juni 1942 im Vernichtungslager Maly Trostinez (12 km südlich von Riga) umgekommen sei. Diese Informationen finden wir auch in der Datenbank der Gedenkstätte Yad Vashem, die das Gedenkbuch des Bundesarchivs als Quelle angibt. In der Online-Datenbank „Gedenkbuch“ des Bundesarchivs finden wir wiederum keine „Ilse Weiner“. Allerdings befindet sich im Stadtarchiv Duisburg die Entschädigungsakte von Else Weiner, deren Antrag Mitte der 1950er Jahre von ihr persönlich gestellt wurde. Hinzu kommt, dass uns der Enkel von Ilse Weiner – jener anfangs erwähnter Javier Mansbach – für die Recherche angefragt hat. Wie sind diese widersprüchlichen Angaben zu erklären? Lebt Ilse oder ist sie tot? Sind die Angaben aus dem Gedenkbuch des Bundesarchivs falsch und hat Yad Vashem die Angaben übernommen?
Klar ist bis heute nur: Ilse überlebte, gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem Bruder in Südamerika den Holocaust. Die Schrecken des Novemberpogroms 1938 ließen die Weiners endgültig die Entscheidung treffen, es Friedas Bruder Walter gleichzutun und nach Südamerika, zunächst nach Bolivien, auszuwandern. Ob sie dies schon länger versucht hatten, es Visa-Schwierigkeiten gab oder sie noch die Hoffnung auf bessere Zeiten in Deutschland hatten? Wir wissen es nicht. Vieles bleibt Spekulation oder mündlich tradierte Überlieferung.
Diese Recherche zeigt, dass sich Spuren auf unterschiedlichem Wege, in verschiedenen Archiven und in diversen Aktenbeständen finden lassen. Der emotionale Zugang zu den Geschichten hinter den Menschen erfolgt aber meist durch Ego-Dokumente wie Fotos, Tagebücher oder Briefe. Das Zentrum für Erinnerungskultur und das Stadtarchiv können jedoch dazu beitragen, fehlende Puzzlestücke zu finden, offene Fragen zu klären und das Bild zu vervollständigen. Oft, wie auch im Fall von Frieda Weiner, bleiben einzelne Puzzlestücke verschollen, oder lassen sich nicht zweifelsfrei klären. Für Javier Mansbach konnten wir einige Antworten finden, aber einige Fragen bleiben offen. Die Suche geht weiter.
Ein Beitrag von Christa Frins und Robin Richterich (Zentrum für Erinnerungskultur)