In Duisburg leben 6.612 Menschen aus der Ukraine (Stand: Mai 2023). Nur wenige Duisburger:innen kennen die historischen Beziehungen zwischen der Ukraine und dem nationalsozialistischen Deutschland während des Zweiten Weltkriegs. Die NS-Zeit hat den Lebensweg vieler Ukrainer und Ukrainerinnen auf tragische Weise beeinflusst.
Im Sommer 1941 begrüßten ukrainische Nationalisten zunächst den Einmarsch der Wehrmacht. Der politische Führer der ukrainischen Nationalisten, Stepan Bandera, wurde ausschließlich als antirussischer Kämpfer verehrt. Manche Ukrainer hofften, mit deutscher Hilfe einen ukrainischen Staat gründen zu können.
Eine fatale Fehleinschätzung. Hitler hatte kein Interesse an einem ukrainischen Staat, wohl aber an der wirtschaftlichen Ausbeutung und Unterdrückung der Bevölkerung. Aus Hitlers Sicht hatte die Ukraine den Status einer Kolonie, die landwirtschaftliche Produkte und Arbeitskräfte für das Dritte Reich zu liefern hatte.
Während der deutschen Besatzung wurden weit über eine Million Menschen aus der Ukraine zur Zwangsarbeit ins Reich verschleppt. Sie erhielten den Status von „Ostarbeitern“. Zu Beginn des Krieges erfolgte die Anwerbung mit Versprechungen durch die Außenstellen der Arbeitsverwaltung, doch der zunehmende Arbeitskräftemangel in Deutschland erhöhte den Druck. 1942 forderte der NS-Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, offen die Anwendung von Zwang bei der Rekrutierung von Arbeitskräften. In den Jahren 1942 bis 1944 wurden die meisten ukrainischen Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten der Zentral- und Ostukraine meist in Viehwaggons ohne ihr Einverständnis ins Deutsche Reich verschleppt, so auch die Ukrainerin Inna Michailowna. Die Versprechungen von ausreichender Verpflegung, Unterkunft und Bewegungsfreiheit wurden nicht eingehalten. Die Ostarbeiterinnen und Ostarbeiter lebten eng zusammengepfercht in Sammellagern und wurden schlecht versorgt.
Während des Zweiten Weltkrieges lebten und arbeiteten ausländische Zwangsarbeiter:innen für kürzere oder längere Zeit in Duisburg; der Höchststand wurde vermutlich im Herbst 1944 mit etwa 30.000 Menschen erreicht, von denen grob geschätzt 15 Prozent aus der Ukraine stammten. Bereits 1942 fehlten den Duisburger Industriebetrieben durch Einberufungen bis zu 30 Prozent ihrer Arbeitskräfte. Das Duisburger Arbeitsamt geriet bei der Zuweisung und Verteilung der Zwangsarbeiter:innen unter Druck. Die Betriebe klagten über wachsende Lücken, bei der August Thyssen-Hütte in Duisburg-Hamborn waren beispielsweise 26 Prozent der Stammbelegschaft im Kriegseinsatz. Aber auch Krankenhäuser, kirchliche Einrichtungen, Stadtverwaltung, Stadtwerke, Reichsbahn, Reichspost, Güternahverkehr und Binnenschifffahrt hätten ab 1942 ihre Aufgaben ohne Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter nicht mehr erfüllen können. Die Duisburger Großbetriebe unterhielten eigene Lager im Stadtgebiet, über die Stadtarchivar Dr. Michael Kanther in den Duisburger Forschungen, Band 49, ausführlich berichtet.
Der Umgang mit den Zwangsarbeiter:innen war von den NS-Rassenideologen bis ins Detail festgelegt. Es gab eine rassenideologische Hierarchie, die die Arbeiterinnen und Arbeiter aus den Ostgebieten an die unterste Stelle setzte. Menschen aus den Niederlanden, Flamen oder Großbritannien galten aufgrund ihrer Abstammung als gleichwertig. Sie konnten sich frei bewegen, öffentliche Verkehrsmittel benutzen und Gaststätten besuchen, während die Unterkunft und Arbeitsbedingungen der Ostarbeiter:innen ungleich härter waren. Die Ukrainerin Inna Michailowna Afanasjewa beschreibt die Zustände im Lager Rumeln-Kaldenhausen, einer ehemaligen Ziegelei, und die Arbeitsbedingungen im IG-Farben-Werk in Krefeld Uerdingen, Halle R34: „Chemische Stoffe wurden nachts in 50 Kilo schweren Lackflaschen gekocht. Die blubbernden und dampfenden Flaschen wurden mit Haken nach unten gezogen und mit großen Bürsten gesäubert. Die Dämpfe nahmen einem den Atem, die Augen tränten und in die Haut gruben sich haarfeine Linien ein. Meister Kurt, ein Sadist im wahrsten Sinne des Wortes, trieb uns immer wieder an. Wenn jemand vor Erschöpfung einschlief, nahm er die Wasserschlange und spritzte diese Person wach. Man durfte vor ihm nicht aufs Klo gehen. Ich verdiente als 15-jährige 1 Mark pro Woche. Am Sonntag brachte der Wirt Pinders aus Kaldenhausen dunkles Bier ins Lager. Damit vertranken wir unseren Wochenlohn. Das Bier half uns, unseren Hunger, der uns sonst ständig quälte, für kurze Zeit zu vergessen.“
1945 wurden Zwangsarbeiter:innen, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge von den alliierten Truppen befreit. „Displaced Persons“ wurden die heimatlosen ausländischen Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter genannt. Viele „Ostarbeiter:innen“ fürchteten sich vor einer Rückkehr gegen ihren Willen. Die Repatriierung war mit politischen Überprüfungen durch die sowjetischen Behörden verbunden. Den ausgebeuteten Ukrainer:innen drohten unter sowjetischen Führung neue Repressionen, Einberufung oder sogar Inhaftierung. Mit dieser Angst im Nacken kehrten nur 60 Prozent der Repatriierten in ihre Heimatorte und zu ihren Familien zurück. Die Gewaltpolitik Hitlers und Stalins prägt das kollektive Gedächtnis der Ukrainer bis heute.
Und wie erging es Inna Michailowna Afanasjewa? Sie konnte 1945 nach Kiew zurückkehren. 2002/2003 folgte sie einer Einladung der Stadt Duisburg, wo ein emotionales Wiedersehen mit einigen Bekannten und Zeitzeug:innen aus den Kriegsjahren stattfand.
Harald Küst und Robin Richterich
Quellen und Literatur
Michael A. Kanther, Zwangsarbeit in Duisburg 1940-1945, Mercator Verlag 2004
Küst, Harald, Duisburg und ukrainische Zwangsarbeiter, Rheinischen Post, 5.6.2023
Tatort Duisburg 1933-1945 [Band I]. Widerstand und Verfolgung unter dem Tappe, Rudolf und Manfred Tietz [Hrsg.]: Nationalsozialismus. 1988, S. 347
Tetiana Pastushenko, Zwangsarbeiter aus der Ukraine im Deutschen Reich: Zwangsarbeiter aus der Ukraine im Deutschen Reich – Geschichtsportal »Deutschland und die Ukraine im 20. Jahrhundert« (ukrainianhistoryportal.org) [27.07.2023]
Projekt Plattform Zwangsarbeit NL/DE: Zitat Inna Michailnowna,
stichtingmosaique.nl/dwangarbeid/DE/index.htm [27.07.2023]
Redaktion: Christa Frins