Teil 3: Täterforschung im Arbeitskreis Antiziganismus des Zentrums für Erinnerungskultur
Vom Leiter der Duisburger Sinti-Deportation zum späteren Personenschützer des Bundespräsidenten
Als im Februar 1950 der Duisburger Sinto Bernhard Rosenberg in seiner Entschädigungssache dem Ausschuss seine Verfolgungsgeschichte berichtete, nannte er neben den Duisburger Kriminalbeamten Karl Knoche und Wilhelm Helten auch einen Josef Ochs als Verantwortlichen der Deportation zahlreicher lokaler Sinti-Familien am 16. Mai 1940 nach Polen.
Dazu muss man wissen, dass die Deportation allen Angehörigen der Roma-Minderheit galt, die in einem Grenzraum des NS-Reichs von der Schweizer Grenze bis an die Nordseeküste lebten. Familienweise waren sie unter der Vorspiegelung einer „Ansiedlung“ ins „Generaldepartement“ nach Polen zu deportieren, wozu für das Rheinland das Reichskriminalpolizeiamt einen regionalen „Sonderbeauftragten für die Umsiedlung“ bestellt hatte. Das war der mit dem Rheinland und dort mit Duisburg gut vertraute Kriminalkommissar Dr. jur. Josef Ochs. Noch im Jahr zuvor war er in der Kriminalpolizeileitstelle Düsseldorf eingesetzt gewesen; dieser unterstand auch die Außenstelle Duisburg der Kripo Essen. Dass mit Ochs „nur“ ein Kriminalkommissar diese Aufgabe hatte, spricht für hohe Wertschätzung durch Vorgesetzte. Wer war dieser Kripobeamte?
Josef Ochs, Jg. 1905, kam aus einer Unternehmerfamilie, studierte nach dem Abitur Jura und Volkswirtschaft und wurde 1933 nach dem Referendarsexamen zum Dr. jur. promoviert. Mit allem, was ihn sozial ausmacht, repräsentiert er die gehobene „gebildete“ Mitte der Gesellschaft, wie sie spätestens seit den ausgehenden 1920er Jahren zur sozialen Basis der NS-Bewegung heranwuchs.
1933 ging er in die SA und schloss sich, mit der Aufhebung der Eintrittssperre 1937, auch der NSDAP an. 1938 wurde seine Bewerbung für die SS angenommen, und ein paar Monate später war er Obersturmführer. Die SS-Mitgliedschaft war seine bewusste Entscheidung gewesen, zu der niemand ihn gezwungen hatte, wie er nach dem NS-Ende behauptete. Auch dem durch und durch rassistischen Reichskolonialbund trat er bei. Das korrespondierte beruflich mit einem Teil seiner späteren Arbeit und ideologisch-politisch mit den nazistischen Kriegszielen.
Nach kaufmännischen Aktivitäten in verschiedenen Unternehmen ging er zur Kripo, besuchte die Kaderschmiede für das NS-Kripo-Führungspersonal, die Führerschule der Sicherheitspolizei in Berlin-Charlottenburg, kam anschließend in die Leitstelle Düsseldorf und von dort kurz nach dem Weltkriegsbeginn zu einem ominösen Einsatz durch das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) im besetzten Polen. Daran schloss sich der Wechsel an einen Berliner Schreibtisch des RSHA an. Wie auch immer im Detail Ochs‘ unbestreitbarer Aufenthalt im besetzten Polen ausfiel, die Rotation von Schreibtischen des RSHA in die Mordkommandos und zurück an die Schreibtische war ein Prinzip der Personalführung im RSHA. Sie sollte „härter“ machen, schuf Komplizenschaften und stärkte den sozialen Zusammenhalt, der für die Kriegsführung elementar war. Ochs Arbeitsplatz befand sich im Reichskriminalpolizeiamt (RKPA). Dort waren seine Themen die sog. Vorbeugende Verbrechensbekämpfung, „Zigeunerangelegenheiten“ und die Planung des sicherheitspolizeilichen kolonialen Einsatzes. Er entschied über die Überweisung von „Vorbeugehäftlingen“ in die Konzentrationslager. „Vorbeugung“ konnte an den Gerichten vorbei praktiziert werden, ohne dass ein strafbares Geschehen vorausgegangen war. Strafbares Verhalten wurde dann aus einer „asozialen“ oder „kriminellen Persönlichkeit“ und aus der Zugehörigkeit zu einer so gewerteten Bevölkerungsgruppe geschlussfolgert. Ochs akkumulierte Expertenwissen zu den Themen dazu und im Besonderen zu rheinischen „Zigeunern“ und zum besetzten Polen. So erklärt sich seine Rolle als „Sonderbeauftragter“ in Duisburg.
Im Juni 1943 wurde Ochs vom RKPA zur Kripoleitstelle Düsseldorf versetzt, wo er bis zum Kriegsende blieb. Dort ist über ihn folgendes zu finden: erstens, wie er einen Kollegen, der sich bei seinem „Osteinsatz“ den Massenverbrechen in der Ukraine entzogen hatte, wegen „Feigheit vor dem Feinde“ vor ein SS-Gericht zu bringen versuchte, und zweitens, dass er in der Endphase an der Erschießung einer Gruppe von niederländischen und sowjetischen Zwangsarbeitern im Kalkumer Wald zwischen Düsseldorf und Duisburg beteiligt war. Die nach der Befreiung folgenden Ermittlungen und ein Hauptverfahren überstand Ochs schadlos und wurde im Übrigen auch bestmöglich entnazifiziert. Das entsprach ganz dem Wunsch des vom NRW-Justizminister bestellten Sonderbeauftragten für die Entnazifizierung, der sein Wort für Ochs eingelegt hatte. Dieser Sonderbeauftragte musste allerdings angesichts fortwährender Bestechlichkeit und als ein „exaltierter Lebemann“ (Der Spiegel) mit einem anstößigen und erheblich ins Geld gehenden Freizeitverhalten 1950 den Landesdienst verlassen. Ochs hatte weitere und einflussreichere Unterstützer, darunter den Düsseldorfer Nach-NS-Oberbürgermeister Karl Arnold (CDU), ab 1947 Ministerpräsident von NRW.
Seit 1950 war er wieder in die Polizei aufgenommen und inzwischen im Düsseldorfer Kriminalpolizeiamt der Britischen Zone tätig, das zur Ausgangsinstitution des 1951 gegründeten Bundeskriminalamts (BKA) wurde, der westdeutschen Nachfolgeinstitution des RKPA. Es ist davon auszugehen, dass Ochs sich dabei auf die Kameradschaft der „Alten Charlottenburger“ hatte stützen können, die erheblichen Einfluss auf Wiedereinstellungen und auch auf die Gestaltung der Verfahren gegen ehemalige Kripoangehörige wegen NS-Gewaltverbrechen nehmen konnte. Sie war im nordrhein-westfälischen Innenministerium, im LKA und in den großen Kripostellen leitend vertreten, bestens informiert und optimal vernetzt. Auch Ochs selbst war als „Charlottenburger“ aktiv.
Belegt ist sein Bemühen um die Wiedereinstellung des vielfältig in die Menschheitsverbrechen involvierten SS-Kameraden und „Charlottenburgers“ Franz Tormann. Der Kölner Gestapobeamte war von seinem Schreibtisch in einen „Sondereinsatz“ zu Erschießungen hinter der Ostfront delegiert worden und hatte sich danach dem berüchtigten „Sondertrupp Smolensk“ angeschlossen, der für Exekutionen aufgestellt worden war. Er war an der Räumung des Ghettos von Smolensk und den damit einhergehenden Massenvergasungen und -erschießungen beteiligt, um nach einem anschließenden Sommerurlaub zur Gestapo Litzmannstadt (Łódź) zu gehen und danach die Gestapo Innsbruck zu leiten. Ochs schrieb für Tormann ehemalige Mitschüler an und bat um Unterstützung für dessen Eintritt in die westdeutsche Kripo.
Im BKA gab es „eine systematische Vergabe der Führungspositionen an ‚Alte Charlottenburger’“. Im Ergebnis dieses Auswahlprozesses stellten vormalige SS-Angehörige den Stamm des BKA. Zu den Wechslern ins BKA gehörte auch Dr. Josef Ochs. Er leitete seit 1951 eine der zwei Abteilungen der „Sicherungsgruppe Bonn“ (SG), deren Aufgabe der Schutz des Bundespräsidenten und der Bundesregierung war, eine Eliteformation und Leibwache sowie ein „Aushängeschild“ des BKA. Ab 1954 war er dort als „Zigeunerexperte“ tätig und setzte sich für die Übernahme der bayerischen Landfahrerordnung auf die Bundesebene ein, mit der eine sonderrechtliche und daher verfassungswidrige Personenkontrolle der in „Landfahrer“ umbenannten „Zigeuner“ reinstitutionalisiert worden war. In der Diskussion befürwortete er das Vorhaben mit der Feststellung, „dass der übliche Meldedienst bei diesem notorischen Verbrechertyp versagt.“ Für ihn war und blieb die „Vorbeugung“ der richtige Weg. Seinen Rassismus, seine Präferenz für die vorbeugende Verbrechensbekämpfung und die damit einhergehende Typisierung ganzer Bevölkerungsgruppen als kriminogen hatte er beibehalten.
Zweimal wurden in den 1960er Jahren staatsanwaltliche Ermittlungen gegen Ochs aufgenommen, die er jeweils unbeschadet überstand, einmal aufgrund von Verjährung, ein anderes Mal aufgrund der Falschangabe, eine Tätigkeit im RSHA sei nicht nachweisbar. 1965 ging er als Oberregierungskriminalrat regulär in Pension.
Der Fall des Dr. Josef Ochs ist ein Beispiel von vielen. Er veranschaulicht, in welcher starken Kohärenz das Personal der reichsdeutschen und dann westdeutschen Kriminalpolizei unter nazistischen Arbeits- und Ideologiebedingungen miteinander verbunden war und es über die Kapitulation weit hinaus auch blieb. Es hatten sich auf der Basis eines ausgedehnten Komplizentums ein Nach-NS-Kripomilieu und eine intensive Fortführung von Kameradschaftlichkeit herausgebildet, so dass in Kooperation mit der helfenden Hand der westdeutschen Justiz die störenden Lasten abgestimmt entsorgt werden konnten. Es handelt sich hier um eine Kontinuität unter vielen, wie die Forschung zur westdeutschen Vergangenheitspolitik sie seit spätestens den 1990er Jahren dingfest machen konnte.
Primärquellen
LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1.037-A/REG, Nr. 10.429, Entnazifizierungsakte Josef Ochs
LA NRW, Abt. Rheinland, BR 2.396, Nr. 811
LAV, Abt. Rheinland, BR 2.396, Nr. 1.082
LAV NRW, Abt. Rheinland, Ger. Rep. 299, Nr. 789
Stadtarchiv Duisburg, Best. 506, Nr. 1.249
Sekundärquellen
Wolfgang Curilla, Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrussland, 1941-1944, Paderborn 2006
Entnazifizierung. Mehr ist besser, in: Der Spiegel, 3 (1950), H. 45
Hans-Christian Harten, Die weltanschauliche Schulung der Polizei im Nationalsozialismus, Paderborn 2018, S. 116-122
Erik Kleine Vennekate, 1945 – Luftangriff, Mord und Einmarsch. Die letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs in Ratingen, in: Romerike Berge, 65 (2015), H. 2, S. 29-36, https://www.stadt-ratingen.de/bilder/41/stadtarchiv/e-books/1945_Seiten_aus_RB_Heft_2_2015.pdf.
Wolfgang Krüger, Entnazifiziert! Zur Praxis der politischen Säuberung in Nordrhein-Westfalen, Wuppertal 1982
Stephan Linck, Der Ordnung verpflichtet. Deutsche Polizei 1933-1945. Der Fall Flensburg, Paderborn 2000
Stephan Linck, Die Stammtisch-Geschichte der Alten Charlottenburger, in: Klaus-Michael Mallmann/Andrej Angrick (Hrsg.), Die Gestapo nach 1945. Karrieren, Konflikte, Konstruktionen (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Bd. 14), Darmstadt 2009
Erika Münster-Schröer, Frühjahr 1945: Exekutionen im Kalkumer Wald und anderswo. Die Ermittlungen der britischen War Crimes Group im Wehrkreis VI – Raum Düsseldorf, in: Ratinger Forum, 6 (1999) S. 145-184 https://www.yumpu.com/de/document/read/3371859/fruhjahr-1945-exekutionen-im-kalkumer-wald-und-stadt-ratingen
Ulrich Friedrich Opfermann, „Stets korrekt und human“. Der Umgang der westdeutschen Justiz mit dem NS-Völkermord an den Sinti und Roma, Heidelberg 2023, hier: S. 197, 284-287, 367
Immo Schatzschneider, Biogramme. 40 ausgewählte Kurzbiogramme, in: Bastian Fleermann (Hsrg.), Die Kommissare. Kriminalpolizei in Düsseldorf und im rheinisch-westfälischen Industriegebiet (1920-1950), Düsseldorf 2018, S. 252-278
Dieter Schenk, Auf dem rechten Auge blind. Die braunen Wurzeln des BKA, Köln 2001
Dieter Schenk, Personelle und organisatorische Verknüpfungen des BKA zu Vorgängerinstitutionen, in: Bundeskriminalamt (Hrsg.), Das Bundeskriminalamt stellt sich seiner Geschichte, Köln 2008, S. 111-124
Joachim Schröder, Ein SS-Netzwerk in der nordrhein-westfälischen Kriminalpolizei. Hintergründe und Folgen einer Pressekampagne der ÖTV aus dem Jahr 1959, in: Bastian Fleermann (Hrsg.), Die Kommissare. Kriminalpolizei in Düsseldorf und im rheinisch-westfälischen Industriegebiet (1920-1950), Düsseldorf 2018, S. 400-411, hier: S. 406
Andrej Stephan, „Der Begriff Sonderbehandlung … war mir damals unbekannt“: Dr. Josef Ochs (1905-1987), ein „Zigeunerexperte“ mit Erinnerungslücken, in: Imanuel Baumann/Herbert Reinke/Patrick Wagner, Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik, Köln 2011, S. 313-322, hier: S. 315
Patrick Wagner, Ein ziemlich langer Abschied. Das Bundeskriminalamt und die konzeptionellen Traditionen der NS-Kripo, in: Bundeskriminalamt (Hrsg.), Das Bundeskriminalamt stellt sich seiner Geschichte. Dokumentation einer Kolloquienreihe, Köln 2008, S. 95-110
Ein Beitrag von Dr. Ulrich F. Opfermann (Historiker/Krefeld)
Ulrich Opfermann forscht und publiziert seit langem zur NS-Zeit und zum Themenfeld „Roma-Minderheit“. Er erarbeitete das Gutachten „zum Umgang der deutschen Justiz mit an der Roma-Minderheit begangenen NS-Verbrechen nach 1945“ für die Unabhängige Kommission Antiziganismus. Gemeinsam mit Dr. Karola Fings gab er 2012 das Buch „Zigeunerverfolgung im Rheinland und in Westfalen 1933 – 1945“ heraus. Opfermann ist Mitglied der Gesellschaft für Antiziganismusforschung und des Rom e.V. Köln wie auch im Arbeitskreis „Geschichte der Duisburger Sinti“ am Zentrum für Erinnerungskultur.
Redaktion: Robin Richterich (Zentrum für Erinnerungskultur)
Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Ausstellung „Die Kommissare. Kriminalpolizei an Rhein und Ruhr 1920–1950“ im Landesarchiv Duisburg, die durch das Zentrum für Erinnerungskultur um einen lokalen Teil ergänzt wurde.